Lebensende. Auch wenn es uns alle ereilt, früher oder später, und wir uns theoretisch jederzeit darauf vorbereiten könnten, scheint es doch selbst bei geliebten Menschen in gehobenem Alter irgendwie überraschend, dass derjenige nicht unsterblich gewesen ist. Erinnert man sich doch noch an die eigenen, nicht allzu lange zurückliegenden Worte über die Zähigkeit, den unerschütterlichen Atem, die Vermutung, dass die Hundert locker zu überschreiten sind. Gerade wenn es sich um ein so zartes Persönchen wie meine Oma handelte, die trotz ihrer nachteiligen Physis erstaunlich vielen Rückschlägen getrotzt hatte, war man geneigt zu denken, dass sie nichts in die Knie zwingen könnte.
Welch fataler Irrtum, wie mir heute früh die Kurznachricht meiner Mama, mit dem unverblümten Inhalt „Oma ist gestorben“, in all ihrer Gnadenlosigkeit mitteilte. Nicht sanft eingeschlafen, leider, sondern durch eine fatale Fehlentscheidung der Ärzte aus dem Leben gerissen worden, die sie gestern trotz heute posthum diagnostizierter Lungenentzündung und gegen den Widerstand der Familie nach Hause geschickt haben. Ich bin unfassbar sauer darüber, da es somit vermeintlich vermeidbar war, doch wird das nun Teil von Ermittlungen, die der heutige Arzt eingeleitet hat und soll(te) eigentlich nicht Bestandteil dieses Blogeintrags werden. Ok, der Frust hat gesiegt.
Doch es geht darum, einem Menschen zu gedenken, dessen Selbstlosigkeit mehr als bemerkenswert war, ein paar Worte zu verlieren, auch um meine Erinnerung zu konservieren. Vielleicht der für mich persönlichste Beitrag, möglicherweise für keinen anderen Leser irgendwie von Bedeutung. Doch bin ich zu einem großen Teil bei meiner Oma aufgewachsen, habe viele Stunden und Tage an Wochenende und in den Ferien mit ihr verbracht, habe mir unzählige Benjamin-Blümchen-Kassetten kaufen lassen und gelacht, so unfassbar viel gelacht.
Es war mir eigentlich immer unbegreiflich, wie sie es stets fertiggebracht hat, mit dem wenigen Geld, den vielen (Enkel-)Kindern so viele Herzenswünsche zu erfüllen und Augen zum Glänzen zu bringen. Wie sie fried- und freudvolle Weihnachtsfeste veranstalten und sich wie ein Kesselflicker streiten konnte – vorzugsweise mit ihrem leider viel zu früh verstorbenen Mann, meinem Opa. Geldnot, ein vorherrschendes Thema in Kindertagen, wurde von ihr mit dem letzten Pfennig gelöst, so dass man sich nur wundern konnte, wie sie sich überhaupt die letzten Lebensmittel hat leisten können; doch dann kommt wieder die Erinnerung, an die vielen im Stillen verrichteten Arbeiten bis ins hohe Alter, beispielsweise vom frühmorgendlichen Putzen eines großen Supermarkts.
Sie wurde in eine Zeit geboren, die wir uns alle heute nicht mehr vorstellen können (manchen rechtsgedrehten Hohlbratzen täte ein Flashback allerdings mal recht gut) und die bedrohlicher und beschwerlicher gewesen sein dürfte, als alles, was um uns herum aktuell passiert. 1930 entbunden, während des Krieges per Landverschickung in vermeintliche Sicherheit gebracht, durfte sie nach 1945 in eine völlig zerstörte Heimatstadt zurückkehren. Die Nazis hatten Deutschland zugrunde gerichtet und sie zeitlebens zu einer Verfechterin von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit gemacht. Etwas Gutes im Schlechten. Vielleicht kam daher auch ihre Geradlinigkeit, die durchaus schon mal in wenig charmanten Konfrontationen enden konnte.
Mit 21 dann ist sie erstmalig Mutter geworden, normal in der damaligen Zeit, und ab diesem Moment zählte nur noch die Familie, für die sich aufgeopfert und als Gastwirtin (im legendären Bickefelder Tor) bis spät in die Nacht malocht wurde. Vier Jungs hat sie groß und stattlich erzogen, auch wenn es Rückschläge gab, doch alle schenkten sie ihr Enkel, reichlich in Summe, so dass es auch später nicht langweilig (aber auch finanziell nicht besser) wurde. Urlaube waren nicht drin, aber Dortmund war stets Wohlfühlort und Heimat zugleich. Die Wohnung mit kleinem Garten entpuppte sich insbesondere in den 80er und 90er Jahren zu einem Treffpunkt voller Kinderlachen und Erwachsenengespräche.
In den vergangenen Jahren wurde das dann seltener, die Kinder wurden groß, verteilten sich und der Umzug in eine neue Wohnung sorgte aus unerfindlichen Gründen dafür, dass die Besuche nachließen und das Heimatgefühl verschwand. Oma hatte immer Verständnis, dafür, dass alle ihrer Wege gingen, ihr eigenes Leben gestalteten und nur selten von sich hören ließen, doch bin ich sicher, im Stillen hat sie es schon bedauert. Mit den Jahren (und schwindendem Gehör) zog sie sich auch aus Gesprächen mehr und mehr zurück und obwohl sie immer noch Freude auszustrahlen wusste, nahm sie einen passiveren Part ein, den man so von ihr nicht kannte.
Hatte man kurz vorher noch nach 90 Minuten am Telefon krampfhaft nach einem Ausweg zum Auflegen gesucht, war es nun schwierig, sie zu mehr als zwei Minuten am Hörer zu bewegen. Das war schade, aber auch selbst verursacht. Warum sind wir so unregelmäßig erschienen, warum habe allein ich sie nur maximal fünfmal in den letzen drei Jahren gesehen? Das bleibt für mich ein Schandfleck, der nicht zu bereinigen ist. Ich hatte stets das Gefühl, durch meine Mama an ihrem Leben teilzuhaben, weil sie mehrfach wöchentlich dort war und alles berichtete – aber das ersetzt keine persönliche Begegnung, das weiß ich jetzt und wusste es immer. Nur habe ich es nicht in Energie umgesetzt und schäme mich dafür; vor mir selbst, niemandem sonst.
Doch bleiben werden die Erinnerungen an den wichtigsten Menschen neben meinen Eltern. An Übernachtungsparties in einem Zelt aus Bettdecken. Spaziergänge durch Hördes Straßen. Diskussionen über die Marotten der Nachbarn. Und so unfassbar vieles mehr. Fehlen wird sie mir, sehr, auch wenn es zu meinem Bedauern zuletzt vordergründig eher das Wissen war, dass in der fernen Heimat diese stets vertraute Person lebt und auf ein erfülltes Leben zurück blickt. Aus jedem Urlaub habe ich ihr eine Karte geschickt, nur ihr und meinen Eltern. Es wird seltsam sein, demnächst nur noch eine zu verschicken.
Was bleibt, ist Gewissheit. Darüber, dass mein Verhältnis zu meinen Eltern, so bizarr es manch einem wegen seiner Enge erscheinen mag, genau richtig für mich ist. Die innere Sicherheit, dass ich niemals eine Partnerschaft haben möchte, die in Konkurrenz zu dieser Verbindung steht; nein, wenn ich mich nochmal binden sollte, möchte ich, dass das in einem tiefen Verständnis darüber wurzelt, dass mir meine engste Familie über alles geht – man kann Teil davon werden und ich war fest davon überzeugt, dass dies in den vergangenen Jahren beidseitig erfolgt war, möglicherweise zu unrecht. Doch bin ich frohen Mutes, dass, sollte es sich für mich irgendwann mal wieder dahin entwickeln, jemand, der sich für mich entscheidet, auch meine Eltern ins Herz schließen würde. Denn ohne sie wäre ich nicht(s), ich verdanke ihnen alles und werde das in der uns gegebenen Zeit bewahren. „Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen.“ – Augustinus Aurelius. Ich möchte hinzufügen: „Bis ins hohe Alter!“. Oma, rock den Himmel und geh dem Opa mal wieder richtig auf den Keks. Wir sehen uns … irgendwann!
Keep on rockin´
Ree
[…] andere so unaufschiebbar war, dass für ein Telefonat, einen kurzen Besuch kaum mehr Zeit blieb. Meine Gefühlswelt könnt ihr hier gerne nochmal nachlesen. Auf jeden Fall ist auch oder gerade dieses Ereignis (m)eine Lehre für die Zukunft, zu spät für […]