Brennpunkt Washington D.C.: Basketball in einer sterbenden Stadt!
Die Ghettoisierung US-amerikanischer Innenstädte macht auch vor Washington D.C. nicht halt. Die Stadt verwandelt sich beständig in eine Retortenstadt, die tagsüber von Büroangestellten und Touristen bevölkert, bei Einbruch der Dunkelheit jedoch sich selbst überlassen wird. Spiele des Basketballteams Washington Wizards bieten für einen kurzen Zeitraum die Möglichkeit, diese sozial gravierende Diskrepanz live beobachten und die Versäumnisse der Politik erleben zu können.
„D.C.-Family“, hallt es immer wieder aus den Lautsprechern der Capital One Arena. Das Motivieren der verschworenen Gemeinschaft aus Zuschauern aller Schichten gehört zu einem Spiel des NBA-Profiteams Washington Wizards einfach dazu. Hier sind sie alle gleich, verbunden durch die Energie des Spiels und die Hoffnung auf die Rückkehr einer glorreichen Ära, als man noch eine aufstrebende Stadt und das Team die Washington Bullets war und 1978 sogar die Meisterschaft gewinnen konnte.
Vor der Halle sieht es allerdings völlig anders aus, die Abgehängten versuchen nicht einmal, sich außer Sichtweite jener Privilegierten aufzuhalten, die sich ein Ticket für das Spiel leisten konnten. Unverhohlen wird vor der Halle aggressiv um Geld gebettelt, auch Diebstahl steht an der Tagesordnung, wie einer der vielen anwesenden Polizisten zu berichten weiß. Die Einsatzkräfte stehen überall um die Halle parat, stets bereit, schon bei sich anbahnender Agressivität mit ihrer sprichwörtlichen Konfrontationsbereitschaft einzugreifen. Hier brodelt es beständig, nicht nur unter der Oberfläche, sondern auch ganz offensichtlich, wenn sich jene, die nichts mehr zu verlieren haben, mit den Gesetzeshütern Wortgefechte liefern, deren Inhalt weit unter der Gürtellinie liegt und die häufig in Durchsuchungen sowie Festnahmen enden. „Ein ganz normaler Spieltag“, wird der Cop weit nach der Schlusssirene zu Protokoll geben.
Eine Mischung aus Stammesmusik und Rock’n’Roll
Schon aus der Ferne, durch die Häuserblocks der Hauptstadt, hört man das rhythmische Wummern, das irgendwo zwischen Stammesmusik und Rock‘n‘Roll-Konzert zu liegen scheint. Eine E-Gitarre stimmt mit ein und betritt man die letzte Kreuzung vor der Capital One Arena, kommen sie in Sicht. Ein energiegeladenes Duo, schwarze Musiker, die den Sound im Blut zu haben scheinen und derart dynamisch spielen, als hätten sie ihr langes Leben nichts anderes gemacht. Vielleicht stimmt das sogar. Sie sind sicherlich mindestens in den 60ern, wenn nicht noch älter, und reißen alleine dadurch sämtliche Vorbeikommenden mit. Egal, ob die Spaziergänger zum Spiel möchten oder nur zufällig vorüber ziehen, sie bleiben stehen, wippen erst mit dem Fuß, um dann mit dem ganzen Körper einzustimmen, so dass man sich tatsächlich fast als Gast eines Open-Air-Konzerts wähnt. Der Berufsstand, das Einkommen oder der soziale Status spielt hier für den Moment keine Rolle mehr, jeder ist Teil eines großen Moments. Unzählige Smartphones sind gezückt, halten diesen Augenblick fest und machen die zwei unbekannten Musiker für einen kurzen Moment zu Stars. Diese genießen die Aufmerksamkeit sichtlich, die Energie steckt sie an und sie scheinen nicht müde zu werden. Das Publikum wechselt, die Sammelbüchse füllt sich, die Männer an den Instrumenten aber bleiben und werden so Teil einer besonderen Geschichte, die für sie erst weit nach dem in der Halle stattfindenden Spiel endet. Sie begleiten die Zuschauer sowohl in die Arena, als auch wieder hinaus, spielen ihnen so quasi den Marsch in ihre jeweilige Heimat. Raus aus der Gemeinschaft, zurück in die persönliche, oft durchschnittliche, manchmal deprimierende Existenz. Basketball und Musik können dem Elend eben doch nur temporär einen Fluchtpunkt bieten.
Mit den einheimischen Farbigen zu reden, bzw. sie zu verstehen, wenn man kein Muttersprachler ist, fällt nicht so leicht. Sie sprechen mit dem Dialekt der den meisten Angehörigen der schwarzen Mittelschicht gemein ist und der eher einem Singsang gemäß “Y‘know w’I’m sayin’“ gleicht. Wir warten gemeinsam auf Einlass in die Halle und währenddessen erfahre ich, dass es für die meisten keine Option ist, mit einer jungen Familie in die Stadt zu ziehen, auch wenn das täglich einen mehrstündigen Arbeitsweg bedeutet. „Es ist hier einfach nicht sicher genug“, sagt man mir. „Kaum leeren sich die Büros, verlassen alle, die eine gute Arbeit haben, die Stadt und zurück bleiben jene, die nicht so viel Glück hatten, wie ich“. Jene, das sind die Abgehängten, die entweder für den Mindestlohn arbeiten und gerade so über die Runden kommen oder eben die, die selbst dorthin nicht mehr vermittelbar sind. Die irgendwann ihre Arbeit und damit den Anschluss verloren haben oder gar schon in jungen Jahren dem Alkohol und noch härteren Drogen verfallen sind, ohne ein Auffangnetz zu haben. Viele hängen nach der Highschool nur herum, kiffen und betrinken sich. Jemand deutet auf einen Mann, der in Hallennähe die Mülleimer inspiziert und dabei wirres Zeug vor sich hin brüllt. „Das könnte eigentlich jeder von uns sein“.
Drinnen, im Fall der Capital One Arena eher unten, läuft zwischenzeitlich das Spiel. Basketballtypisch wogt es hin und her, es gibt die berühmten Läufe, doch letztendlich bleibt es eng. Das ist gut für die Stimmung und da es zudem um den direkten Einzug in die Playoffs gegen das beste Team des Ostens, die Toronto Raptors, geht, liegt förmlich Elektrizität in der Luft. Schlussendlich werden die Wizards begeistern, sie gewinnen und ziehen somit in die Runde der besten 16 Teams der NBA ein. Doch für die meisten Zuschauer, gerade auf den günstigeren Rängen, scheint das Spielende nicht maßgeblich zu sein. Sie würden am liebsten endlos zusehen, anfeuern, sich mit ihren Freunden unterhalten und dabei die kulinarischen Angebote genießen. Hauptsache, dem Elend draußen einen Korb geben, der Tristesse noch etwas länger entfliehen und einer Gemeinschaft anzugehören, um dem ganzen einen Sinn zu verleihen.
„Go buy me some food!“
Nach dem Spiel sollte der traditionelle Fastfood-Burger folgen, die Stimmung in der Stadt aufgesogen werden. Rasch war Wendy‘s in der New York Avenue Northwest angesteuert, vor dem es nach dem Trubel nur wenige Blocks zuvor überraschend dunkel und still war. Ein erster persönlicher Eindruck der Stadtflucht, die auch unmittelbar nach dem Spiel ihre Fortsetzung gefunden hatte. Bereits auf dem Parkplatz nahm mein Washington-Trikot einem knapp dreißigjährigen Radfahrer die Scheu der Ansprache fremder Leute, er stellte zunächst einige unverbindliche Fragen zum Spiel, um dann nach einer ihn augenscheinlich nicht zufrieden stellenden Antwort ein paar Beschimpfungen loszulassen. „Dumb shit, motherfucker“, war noch das Verständlichste, für das er sich interessanterweise direkt mit der Begründung entschuldigte, er stamme aus einem rauen Umfeld. Sein Alkoholgeruch war schier umwerfend, so beließ ich es dabei, reagierte gelassen und betrat den Laden, ohne dabei zu bemerken, dass mir der Pöbler mitsamt seinem Bike auf den Fersen war. Erst sein Ausruf „Go buy me some food“, ließ mich aufschrecken und erstmal die Lage checken. Er blieb zwar im Vorraum, versperrte mit dem Rad jedoch den Ausgang und begann ein Telefonat mit seinem Smartphone. Aus dem Ladeninneren war keine Hilfe zu erwarten, Mitarbeiter und Gäste gehörten eindeutig seiner Klasse der schwarzen Unterschicht an und würden sich vermutlich nicht für einen weißen Besucher opfern, der eindeutig zur falschen Zeit am falschen Ort war. Paranoia? Nun, Washington D.C. gehört zu den fünf gefährlichsten Städten der USA, Gewaltverbrechen sind an der Tagesordnung und manchmal muss man auch auf seinen Bauch hören. Dieser drängte zur Flucht und zum Glück gab es auf der anderen Seite des Lokals einen zweiten Ausgang, der außer Sicht des ersten lag und direkt auf den Parkplatz führt. Mit dem Auto auf die Straße bretternd, konnte man im Rückspiegel nur noch einen fluchenden Pöbler kleiner werden sehen, der lautstark entweder um eine Mahlzeit, oder vielleicht auch das Bargeld in meiner Tasche trauerte. Das war gefühlt denkbar knapp, den Burger gab es dann in einer anderen Filiale der benachbarten Kleinstadt.
Generell ist die Armut in DC überall sichtbar, sobald das Licht verlischt. Obwohl das Machtzentrum des Landes samt seines Oberhauptes nur wenige Blocks entfernt liegt, scheint sich eine deprimierende Parallelwelt aufzutun. Es sind nicht nur Kriminelle, die die Straßen bevölkern, es sind die Ärmsten der Armen. Kaum steht man mit dem Auto an einer Ampel, schon kommen sie in Scharen, sind zumeist freundlich, halten einen Becher in den Wagen und fragen nach ein paar Münzen. Man gibt sie ihnen, aus Mitleid und weil sie einem selbst nicht weh tun. Doch andere Fahrer sind so abgestumpft, rücksichtslos, dass sie einfach los fahren, so dass den meist älteren Bittstellern vom Autofenster fast der Arm aus dem Gelenk gerissen wird. Sie taumeln mit unbewegten Gesichtern Richtung Mittelstreifen und warten auf die nächste Rotphase. Doch vielleicht ist es seitens der Fahrer auch gar keine Rücksichtslosigkeit, sondern ein alternativer Umgang mit einer alltäglichen Konfrontation, in welcher sie Unmengen an Kleingeld zu zahlen hätten, würden sie jeden Tag an jeder Ampel Mildtätigkeit beweisen wollen. Man steckt in ihren Köpfen ja nicht drin.
„Die Politik lässt Kontinuität vermissen und versagt somit“
Spricht man jedoch über Washington D.C., darf das Versagen der Politik hier im Zentrum der Macht des mächtigsten Staats der Erde nicht verschwiegen werden. Es sind schließlich nur wenige Schritte von der Capital One Arena bis zum Capitol Hill, den ganzen Monumenten siegreicher Feldzüge und der Darstellung jedweden patriotischen Zusammenhalts, der nach Einbruch der Dunkelheit konterkariert wird. Es existieren große Probleme im Land und die Politik versagt seit Jahrzehnten beim Versuch, sie in den Griff zu bekommen. Man sollte meinen, gerade in der Hauptstadt sei ein guter Start machbar, doch offensichtlich wurde stillschweigend vereinbart, die Stadt sich selbst zu überlassen, zurück in die eigenen „Gated Communities“ zu fahren und abzuwarten, wie sich das Problem entwickelt. Nur wird es ohne soziale Programme, verstärktes Streetworking, ohne Perspektiven und Hilfen für die Hilflosen nicht funktionieren. Nirgends in der westlichen Welt trifft man so viele Menschen mit offensichtlich geistigen Einschränkungen auf den Straßen, und erschütternderweise sind die meisten von ihnen Schwarz. Der aktuelle Präsident, Mr. Donald Trump, der sich mehr um persönliche Kriegsschauplätze, Mauern und Zölle, als um sein eigenes Volk zu interessieren scheint, kann noch so oft fehlenden Patriotismus und die Proteste schwarzer Profisportler wie Colin Kaepernick, LeBron James und Steph Curry per Twitter anprangern. Doch würde er sich mal die wenigen Meter aus seiner weißen Festung hinaus wagen und inkognito durch die Straßen der Stadt ziehen, er müsste ob des überall sichtbaren Elends vor Scham im Boden versinken, bitterlich weinen oder endlich seiner Verantwortung gerecht werden, ein multikulturelles Land zu einen, statt zu spalten. Barack und Michelle Obama haben es versucht, doch selbst sie sind ob der tiefen Gräben zwischen den Ethnien und Schichten, sowie der jahrzehntelangen politischen Konflikte nur in Schrittgeschwindigkeit vorangekommen. Jemand hätte den von den Obamas gespielten Ball aufnehmen und den eingeschlagenen Weg fortsetzen müssen, doch hat sich das US-amerikanische Volk blenden lassen und für das Gegenteil, den Rückschritt und die Spaltung, entschieden. Diese bietet in DC ein besonders gravierendes Kontrastprogramm, doch finden sich die Gräben nahezu überall im Land. Die USA sind arm in ihrem Reichtum und blind gegenüber den Interessen seiner Bedürftigsten, die die Quittung zu zahlen haben und ein Leben unterhalb von Würde und Ehre führen. Es ist eine Schande!