Warten. Um einen herum alle möglichen Körpergeräusche und Verhaltensweisen. Während man sich selbst möglichst unauffällig verhält, das Smartphone lautlos gestellt hat und ein wenig in den diversen News-Apps liest, nehmen sich manche ihr ureigenes Recht heraus, dieses öffentliche Wartezimmer als ihr persönliches Wohnzimmer zu erachten. Da ist das in die Jahre gekommene Pärchen, er begleitet sie, denn sie war ja gestern schon zur Untersuchung. Eigentlich ganz süß. Hätten sie nicht beide einen mörderischen Auswurfhusten, der klingt, als würde Nachbars Rottweiler kampfeslustig auf Opfer hoffen. Dass sie beim Husten die Hand vor den Mund nehmen würden, ist ganz offensichtlich zu viel verlangt. Gut, man ist ja schon beim Arzt, was sollen einem die paar Partikel also schon antun können…
Nicht uninteressant ist die Dame um die 60, die trotz eines ziemlich vollen Wartezimmers zwei Stühle für sich reklamiert, da ihre gut gefüllte Handtasche samt Bücherkollektion einen eigenen Platz benötigt. Sie scheint sich auszukennen, holt sie doch nach wenigen Minuten eine geschmierte Stulle Brot (Schinken und Käse) aus selbiger und beginnt genüsslich und leider nicht sehr leise mit dem Verzehr. Mich wundert gar nichts mehr. Dachte ich. Dass dann aber das gut zwanzigjährige Mädchen auf der gegenüberliegenden Seite lautstark irgendwelche Instagram-, Snapchat- oder YouTube-Clips schaut, erfüllt so viele Vorurteile, dass es fast konstruiert wirkt.
Ich vergesse beinahe, dass es mir eigentlich ziemlich mies geht, so negativ unterhaltsam ist die ganze Bande. Das mag ein Vorteil der Situation sein, kurzfristige Therapie durch Studium menschlichen Benehmens. Keiner, mich eingeschlossen, sagt ein Wort oder beschwert sich gar, mit Ausnahme belangloser Begrüßungs- oder Verabschiedungsfloskeln. Die meisten halten es wie ich und verharren still, bis ihr Name aufgerufen wird und sie erleichtert und blitzartig aufspringen, auf dem Weg wieder den geschwächten Gesichtsausdruck aufsetzend, schließlich ist man doch beim Arzt.
Drinnen habe ich meine Geschichte erzählen dürfen und war positiv überrascht, wie viel Zeit sich für mich genommen wurde. Die Diagnose, welche Ironie, war ziemlich deprimierend, weil ich ziemlich deprimiert bin. Will sagen, die letzten Wochen haben durch ihre Intensität all das an die Oberfläche befördert, was ich in den letzten Jahren erlebt und sukzessive vergraben, jedoch nie 100% verarbeitet haben. Gut, das ist wohl nicht unnormal, nur muss ich mich dem dann eben jetzt stellen. Das klingt anstrengend, doch wegducken ist nicht mehr.
Ich verlasse die Praxis, wie ich sie betreten habe. Ein wenig ratlos. Diesmal allerdings, weil ich nicht genau weiß, welchen der vielen Ratschläge ich zuerst angehen soll und mit etwas Sorge, weil es mir nicht so leicht fällt, Schwächen einzugestehen, wo ich doch immer stark sein möchte. Andererseits: Diese offensichtlichen Schwächen meiner Mitbürger aus dem Wartezimmer lassen mich hoffen, dass bei mir Hopfen und Malz noch nicht verloren ist.
Keep on rockin´
Ree